Tuesday 8 October 2013

Von Orientierung, wilden Kühen und lieben Menschen

Wenn man die Welt zu Fuss bereist muss man gewissen Dingen entbehren. Man kann sich jedoch nie beklagen, dass man zu wenig erleben würde. In einem Tag geschehen so viele Dinge, dass die Chronologie der Ereignisse innert Stunden verloren geht und man sich nicht mehr sicher ist, ob etwas am Morgen, vor drei Tagen oder vor einer Woche war. Unabhängig ob man sich nun in Thailand, Laos, England oder Wales aufhält. Man könnte glauben, dass es einfacher ist durch Westeuropa zu wandern doch das würde ich so nicht unterschreiben. Ja, die Sprachbarriere ist nicht da, ja, die Kultur und Gewohnheiten sind sehr ähnlich etc. etc. ABER: es gibt auch eine ganze Reihe von Herausforderungen, die es in Südostasien nicht gab und die einem das Vagabundenleben nicht gerade vereinfachen. 

Vagabond alleine...

Sich auf Englands Wanderwegen zu orientieren kann ein Abenteuer für sich sein. Wie viele vielleicht wissen sind die Felder in diesem Teil der Welt mit Hecken voneinander getrennt. Super für die Tiere und schön anzuschauen - bis man sie überwinden muss. Gatter zeigen dem Wanderer wo er diese undurchdringbaren, grünen Festungen überwinden kann. An einem sonnigen Tag sieht man bis zum nächsten Schlupfloch im gegenüberliegenden Dickicht, was einem die Marschrichtung angibt. (Anmerkung: ich spreche von Wanderwegen aber sie sind, anders als in der Schweiz, nicht als solche erkennbar sondern lediglich auf der Karte eingezeichnet) Bekanntlich ist die Sonne aber nicht gerade ein Stammgast in Grossbritannien. Sie ist eher wie ein Fremder, der scheu eine Dorfbeiz betritt, ein Bier bestellt, dieses in der dunkelsten Ecke herunterstürzt und schnell wieder geht um niemand zu stören. Daher taucht man oft, im totalen Blindflug, in eine graue Suppe ein und der einzige Wegweiser befindet sich auf einer 1:50'000 Landkarte: eine gestrichelte Linie, die wegen ihrer Breite von 0.2 mm in Realität höchstens auf 10 m genau ist. Eine Punktlandung ist grundsätzlich unmöglich. Stattdessen stolpert man über eine Weide bis man mit einem fatalen Dornwall kollidiert. Brombeere im Schritt, Hagebutte um den Hals und ein Weissdorn, der sich ins linke Nasenloch bohrt. Eine Serie von höchst riskanten Entfesslungskünstlermanöver ist notwendig um sich aus dieser Misere zu befreien. Wieder sicheren Boden unter den Füssen kann man nun eine Münze werfen ob man links oder rechts das nächste Tor suchen soll. Wo, wenn man Glück hat, sich das Schauspiel wiederholt. Wenn nicht, kann es auch sein, dass man sich mitten durch ein durchnässtes, 3 m hohes Maisfeld kämpfen muss. Warum der offizielle Wanderweg nicht am Rand des Feldes verläuft ist mir ein Rätsel. Falls dies jemand weiss: bitte melden! 

Links: Wanderweg...? Rechts: Offa's Dyke

Doch dies ist alles nichts im Vergleich zu einer wütenden Herde Paarhufer (gemeinhin als Kühe bekannt) die einem begrüsst. I befand mich ca. 3 Meter in der Wiese als die erste Kuh ihren Kopf senkte und auf mich losrannte. Weglaufen ist die schlechteste Option weil man a) mit den Rucksack nicht davon kommt und b) die Tiere dadurch eher noch angriffiger werden. Ich kenne diese Situation von der Schweiz also blieb ich einfach stehen, Arme breit in die Luft gestreckt. Normalerweise genügt dies doch mein Gegenüber zögerte nicht einmal und war nun in vollem Galopp. Also nächstes Level: selbst einen Angriff vortäuschen und geradewegs auf sie zustürmen. Dies erwartete sie offenbar nicht denn sie bremste ab und suchte das Weite. Uff. Unglücklicherweise interpretierten die Kühe hinter mir diesen Angriff als Flucht - was sie zu einer Attacke animierte. Bemerkbar durch ein Galoppcrescendo in meinem Rücken. Also schleunigst umdrehen und die erfolgreiche Verteidigungsmassnahme wiederholen. Mit dem selben Resultat - inklusive, dass nun die erste Kuh wieder heranstürmte. Dies hätte noch ewigs so weiter gehen können also entschied ich mich für eine Planänderung. Schnell Karte komplett auffalten, über den Kopf reissen und furchterregende Urschreie ausstossen. Ich nutzte den so gestifteten Moment der totalen Verwirrung um aus dem Kuhsandwich zu entschlüpfen. Bevor sie sich wieder sammeln konnten war ich über alle Berge... 

Wales, magisches Wales. Sogar ein wenig Angkor Wat (unten rechts)

Vielleicht war ich ein wenig unfair zur Sonne im zweiten Paragraph. Unerwarteterweise habe ich sie an mindestens 50 % der Tage gesehen. Dies wurde allerdings mit Stürmen kompensiert. Ausgerechnet am Tag, an dem ich der höchste Punkt der Wanderung (in England und Wales) überquerte: Hay Bluff (ca. 700 müM). Von dort folgt der Weg einem exponierten Bergrücken für 15 km. Just als ich diesen betrat hüllte mich dichtester Nebel ein. Böen von 80 km/h hämmerten den Regen gegen meinen Körper. Innert Minutenfrist war ich nass bis auf die Unterhose. Und ich bin froh, dass dies geschah. Nässer als nass kann man nicht werden also störte ich mich nicht mehr am Wetter. I staunte über die Kraft der Natur, watete singend in knietiefen Wildbächen, die sich auf dem kaum sichtbaren Weg bildeten, grüsste jeden Windstoss mit einem Jauchzer. In allen Bedingungen draussen zu sein ist, zumindest für mich, eines der Wunder des Langdistanzwanderns. 

Bevor es richtig anfing zu schütten...

Das vielleicht noch grössere Wunder sind die netten Menschen, die man auf dem Weg treffen darf. Ich muss zugeben, dass ich diesbezüglich nicht viel von Westeuropa erwartete nachdem wir die unmenschliche Menschlichkeit der Laoten und Thais erlebten. Zu egoistisch und misstrauisch schien mir die Stimmung in unseren Breiten. Vor allem gegenüber einem stinkenden Ausländer wie mich, der grundsätzlich Obdachlos ist und keinen "richtigen" Beruf hat. Glücklicherweise habe ich mich geirrt. Und ich möchte mich für dieses Vorurteil entschuldigen weil ich auch hier viel Güte von wildfremden Personen erleben durfte. Beispiele? Spenden wurden mir spontan in die Hand gedrückt, Phil begleitete mich ein Stück des Weges begleitete und mich den einfachsten Weg zeigte. Jeff und Liz, die kein Platz auf ihrem Land für mein Zelt hatten aber den Nachbar fragten und mich anschliessend Wasser und Esswaren anboten. Nikki und Will, die mir kostenlos ihr Gästezimmer zur Verfügung stellten und sogar Frühstück zubereiteten nachdem ich zwei Tage im Regen campierte. Nur einmal durfte ich mein Zelt nicht aufstellen. Meiner eigenen Sicherheit wegen. Dafür wurde mir Essen und Tee offeriert. Ich könnte schon bald hundert solcher Begegnungen aufzählen, aber das würde viel zu lange dauern. 

Mein super Gästezimmer!

Es scheint noch gar nicht lange her, als ich Elly schweren Herzens Richtung England verliess um unser Projekt zu Ende zu führen. Für die Menschen, die weniger Glück haben als wir. Und schon muss ich mich nun mit dem Abschied von der Insel befassen, die ich immer noch als meine zweite Heimat sehe. Momentan bin ich auf dem Sofa eines Freundes in Bath, geniesse den Luxus einer Küche, eines Daches und einer Toilette. Und gebe meinen Füssen eine kleine Pause. Ca. 500 km inklusive Offa's Dyke liegen hinter mir. In vier Tagen werde ich wohl auf einer Fähre von Poole nach Cherbourg sitzen. Und wieder erwartet mich ein neues Land mit neuen Herausforderungen aber unbezahlbaren Erlebnissen. Bis dahin geniesse ich jedoch den Süden Englands in vollen Zügen.

Bath und dramatische Landschaft